Er hat den Wind kassiert, so dass wir einen Tag länger in Anzio bleiben mussten. Mit der Folge, dass das Dinghy im der zweiten Nacht geklaut wurde. Seit wir Lagos verlassen haben, schickt der Gott der Winde entweder Strümisches (bis Ayamonte) oder Flaute (Tyrrhenisches Meer). Vor allem aber schickt er sein Werkzeug immer auf die Nase. Bei Tarifa von Südost. Nach Gibratar von Nordost, in Andalusien von Ost. Ligurien haben wir deshalb nie erreicht, bei Ventotene war er zu stark, um das Großsegel setzen zu können, undsoweiter undsoweiter. Und jetzt, um uns die Ankunft im Winterhafen zu verderben, schickt er von Messina her Böen mit 70 km/h. Wir schaffen es gerade noch rechtzeitig in den Winterhafen. Wir liegen längsseits an der Tankstelle und bitten um Hilfe beim Anlegen. Doch die Marineros winken ab. Selbst mit Unterstützung eines starken RIBs (rubber inflated boat) ist ihnen die Sache zu heikel. Im Hafenbecken pfeift der Wind durch die Wanten, die Fallen der Boote klappern wie Störche, überall auf den Schiffen quietscht und schlägt etwas. Wir wissen es noch nicht, das wird jetzt drei Tage und Nächte so gehen.
600 Meilen haben wir in den letzten fünf Wochen gemacht. Seit wir Lagos verlassen haben fast 2000. Und nun die letzten acht. Das letzte Mal die Motoren an, das letzte Mal die Segel setzen. Ankommen ist ein seltsames Gefühl. Wir haben uns das jedenfalls als schön, positiv, genugtuend, wie auch immer ausgemalt: Eine schnuckelige Marina mit allem Komfort, am Fuß des Ätna, ein nettes Dörfchen nebenan. Bis zu dem Moment, als die Rezeptionistin uns einen Winterliegeplatz an der Außenmauer des Yachthafens zuwies. Dort liegen die Superyachten längsseits. Der Bereich ist zwar vom Meer durch eine weitere Hafenmauer abgetrennt, aber bei starkem Nordwind baut sich innerhalb des leeren Beckens eine kappelige See auf. Für die Großen kein Problem. Für uns hingegen schon. Während die inneren Bereiche mit Schwimmpontons ausgestattet sind, müssen wir mit dem Heck an der Außenseite der Hafenmauer festmachen. Bei mehr als 30kt Wind werden wir gnadenlos gegen die Mauer gedrückt. Den dritten Tag geht das jetzt schon so. Wenn wir uns mit den Leinen in angemessenem Abstand zur Mauer platzieren, liegt das Boot bei nachlassendem Wind mehr als zwei Meter davor, so weit, dass wir nicht mehr das Boot verlassen können. Die Dream Chaser ruckelt Tag und Nacht hin und her und zerrt an den Leinen, als wolle sie sich befreien. Bei Böen, die auch Dächer abdecken würden, schlägt die unruhige See so stark gegen die Mauer, dass uns die Gischt auf dem Achterdeck entgegenfliegt. Unsere Stimmung ist am Tiefpunkt. Die Rezeptionistin sagt, sie habe keinen Platz für uns im Innenbecken. Fully booked. Sie und der Marinero schauen uns wie begriffstutzig an. The place is fine. I don’t understand your problem. Wir fühlen uns übervorteilt. Wir haben bereits im Januar reserviert, der Liegeplatz ist teuer. Ein ruhiges Plätzchen in einer sicheren Marina fühlt sich anders an. Ankommen ist das Schwerste überhaupt.
Das letzte Drittel unserer Etappe führt uns entlang der Küste Italiens mit seiner markanten Kartographie, an dessen Schienbein wir über den Fussspann hinweg zur Stiefelspitze mit unserer Dream Chaser runterrutschen.
‚La bella Italia‘ – wie sehr hatte ich mich darauf gefreut. Sogar die italienische Sprache habe ich angefangen über ‚Duolingo‘ zu lernen.
Und genau dort, wo Du ein Schienbeintritt vermeintlich am schmerzvollsten spürst, hat es bei uns einen heftigen Bluterguss hinterlassen, als man unser Beiboot im Hafen von Anzio, südlich von Rom, gestohlen hat. Ich muss gestehen, das Hämatom verblasst nur langsam.
Seither hat auch mein Online-Sprachkurs ein abruptes Ende gefunden. Ich hatte es bis dato eh nur bis zu Obst und Gemüse geschafft.
Und jetzt bekommen wir auch noch kräftig auf den Zeh getreten. Genau so fühlt es sich an, als wir unser Winterquartier in Riposto bei Catania erreichen.
Aus dem Nichts erreicht der Wind plötzlich Sturmstärke beim Anlegen an der Bootstankstelle. Kurz darauf liegen wir 5-fach vertäut über Nacht mit Dieselgeruch in der Nase, an der Tanke fest. ‚Take it easy‘, denke ich, als sie uns am nächsten Morgen einen Liegeplatz an der äusseren Hafenmauer zuweisen. Alle Plätze im kuscheligen Hafeninneren sind belegt. Schon klar, wir haben ja auch erst vor einem Dreivierteljahr die Reservierung vorgenommen.
Die Dream Chaser kommt drei Tage lang auf den mit Schaumkronen bespickten Wellen im Hafenbecken nicht zur Ruhe und stemmt sich unermüdlich gegen den Wind. Das zerrt nicht nur an den Leinen, sondern auch an unseren Nerven.
Als wir bei diesem Höllenwind von Bord wollen, liegt unser Boot so weit von der Hafenmauer entfernt, dass ich selbst mit meinen langen Beinen keine Chance sehe, den Sprung an Land zu schaffen. Also schmeisse ich meine Flip-flops schon mal auf die Uferpromenade und warte auf die nächste Windböenflaute, die den Abstand verringern wird. Während ich die große Lücke zwischen Bootsende und Hafenkai fest im Blick halte, sehe ich aus dem linken Augenwinkel einen rostroten, verbeulten Lancia auf der Promenade anrollen. Als ich den Kopf hebe, kann ich nur noch tatenlos zusehen, wie dieses Gefährt im nächsten Moment ohne jegliche Hast über meine Flip-flops rollt und seine schwarzen Reifenabdrücke auf meinen weißen Gummischuhen hinterlässt. Der völlig merkbefreite Fahrzeuglenker, älteren Kalibers, stiert unterdessen weiterhin geradeaus auf den Asphalt vor ihm. Ob er meine italienische Schimpfworttirade akustisch überhaupt wahrgenommen hat, bleibt ungewiss.
Tagessoll erreicht. Ich habe gerade keine Lust mehr.
Die Küste an backbord wird flacher, eintöniger, sie beruhigt sich geradezu und mit ihr beruhigt sich etwas in mir. Das Meer ist tiefblau und ruhig, über uns bilden sich am Morgen Cumuluswölkchen, kleine Haufen wie Blumenkohl, die ihre Form schnell ändern und die Fantasie anregen. An Steuerbord taucht in der Ferne ein Kegel auf dem Wasser auf. Der Stromboli. Wir sind auf der letzten Etappe entlang des italienischen Festlands. Siebenhundert Kilometer Küstenlinie, die wir in den letzten Wochen erkundet haben, mit einigen Höhen und Tiefen. Es ist Ende September. Luft und Wasser sind noch angenehm warm.
Man mag sich zwischendurch vielleicht fragen, wie es zwischen den Beiden an Bord der Dream Chaser so läuft. Heute zum Beispiel, wo sie zehn Stunden lang bei Windstille unter Motor geradeaus fahren, eine leichte Welle von rechts hinten sie immer wieder ins Schwanken bringt, wenn sie übers Deck laufen, und gegen irgendwelche Hindernisse und Kanten an Bord drückt; blaue Flecken am Abend sind garantiert. Sie haben sich für heute vorgenommen, an Bord zu kochen. Er wollte am Vormittag das dafür vorgesehene Hackfleisch aus der kleinen Gefriertruhe holen, doch sie hat ihn gebremst. Das taue schnell auf, man könne das noch am Nachmittag machen. Sie werde ihn gern daran erinnern. Nachmittag. Die Hälfte der Strecke ist geschafft, der Stromboli steht inzwischen querab. Eine dunkle Wolke hat sich über dem Kegel gebildet und entlädt sich in sichtbaren Fäden einige Meilen weiter über dem Meer. Auf der Dream Chaser strahlt die Sonne mit aller Kraft, die ihr Ende September noch möglich ist. Wolltest Du mich nicht daran erinnern, dass wir das Hackfleisch auftauen?, fragt er. Sie antwortet: Schatz, wolltest du nicht das Hackfleisch auftauen? Ja, sagt er. Dann mache ich das gleich. Danke, dass Du mich daran erinnerst.
Auch sonst läuft es gut für mich. Zum Ende dieser Etappe werde ich mich bei Wetten dass? anmelden können, weil ich in der Lage bin, alle zwölf Putzlappen an Bord fehlerfrei nach deren Verwendung und Stauort zu benennen und zu verwenden.
Der Süden Kampaniens hat es mir angetan. Eine bergige Landschaft, schroffe Küsten mit flachen Strandabschnitten. Pinenwälder und Olivenhaine. Sattes Grün im September. Kleine Städtchen säumen die Ufer. Sie wirken ursprünglich, nicht wie vom Tourismus vergewaltigt. In jeder Hafeneinfahrten wacht die örtliche Madonna über die Sicherheit der Seefahrer. Man braucht hier keine Uhr, die Kirchenglocken schlagen die Stunde und ihr Viertel, es erinnert mich an meine Kindheit. Agropoli, Palinuro, Scario. Alles wirkt wohlgeordnet und organisiert. Als wolle man sich hier abheben vom Elend der großen Stadt im Norden. Freilich gilt das nicht für alle Bereiche des Lebens. Im Hafen von Sario ist Luca ist der örtliche Boss am Pier. Mangels Hafenmeister, Abwesenheit der Küstenwache oder anderer Offizieller macht er den Chef. Die Erstkommunikation erfolgt per WhatsApp. Damit lassen sich Anfragen leicht übersetzen. Luca spricht kein Englisch. Klar, schreibt er, ich habe für Euch einen Platz an der Hafenmauer. Zweihundert schreibt er in einer separaten Nachricht. Das wäre allerdings so teuer wie im Golf von Neapel zur Hochsaison. Ich will mich schon aufregen. Aber dann reizt mich der Versuch nachzuhaken. Sorry, zu teuer für uns. Ob er auch einen Platz für hundertzwanzig habe. Die Antwort lässt keine fünf Minuten auf sich warten. Claro, 120€ ok, in cash.
Eine Stunde später legen wir an einer jüngsten komplett renovierten Hafenmauer an. Gute Arbeit in Stein, samt neuer Beleuchtung, Strom und Wasseranschluss. Die Leitung hat einen hohen Druck wie noch nie in einem Hafen. Drei Jungs helfen beim Anlegen. Der Boss kommt eine halbe Stunde später auf dem E-Bike mit fetten Reifen ans Boot. Kurzgeschorenes Haar, weißes Muskelshirt, weiße Shorts, weiße Turnschuhe. Er trägt drei schwere goldene Halsketten, eine protzige goldene Uhr und eine Sonnebrille mit vergoldeten Gläsern und hat nicht vor, abzusteigen. Wir reden nicht viel. Ich gebe ihm die Scheine passend und frage nach der den Formalitäten der Anmeldung. Keine Anmeldung, sagt er, und wünscht uns einen schönen Tag, bevor er sein Bike in Gang setzt ohne ein einziges Mal zu treten.
Ein steiler Fels, eine einsame Küste. ein sternenklarer Himmel. Wir waren noch schnell um die Ecke gesegelt, um Wind und Welle für die Nacht zu entgehen. Und dann das. Eine geschützte Bucht samt vorgelagertem Fels. Der Fleck nennt sich Strand des Guten Schlafes. Kein Mensch kommt hierher. Zumindest nicht zu dieser Jahreszeit. Es ist magisch. Es ist groß. Das erste wirkliche Naturerlebnis auf unserer Reise. Wir ein Teil davon, ein winziger Teil.