Try Out

Try Out

Aus welchen Gründen könnte eine Segelyacht am Mast bei Dunkelheit kein Ankerlicht führen?, frage ich Carola etwas provokant. Schwer zu sagen, ob die Frage ernst gemeint ist, also einer Art unfeine Abfrage wäre, aus jedem Zusammenhang gerissen, und wie ein Test, bei dem man nur verlieren kann. Sie entscheidet sich, es trotzdem nicht für einen Scherz zu halten, antwortet Vergessen?, als fühle sie sich dabei ertappt, unseres nicht beim Verlassern des Bootes eingeschaltet zu haben.
Hmm, reagiere ich unbestimmt. Oder, du hast gar keinen Mast. Ich lache und zeige hinüber zu der Yacht, die neben uns vor Anker liegt, ein holländisches Stahlschiff, etwa zwölf Meter lang, der Rumpfform und dem Aufbau nach eindeutig ein Segler. Ein übler Scherz auf Kosten des Paares an Bord. Die beiden Holländer stellen sich als nett und zugänglich heraus. Wir lernen sie im Vorbeifahren aus dem Paddelboot heraus kennen und laden sie spontan für den Abend auf ein Glas Wein an Bord ein.
Paul und Maja sind über achtzig. Sie besegeln seit mehr als vierzig Jahren das Mittelmeer. Seit zehn Jahren ist Nordsardinien ihre Basis. Sie erzählen bereitwillig ihre Geschichte. Ein Sturm vor drei Monaten hat das Backstag, die hintere Befestigung des Mastes aus Stahlseilen, abgerissen. Der Mast fiel innerhalb von Sekunden. Glücklicherweise hat sich niemand verletzt. Seither liegt die Try Out im Hafenbecken von Agropoli vor Anker und wartet auf Ersatz aus Frankreich. Eigentlich wollten die Beiden längst auf dem Rückweg nach Sardinien sein, der Herbststürme wegen. Aber jetzt – try out.

Ich stelle mir vor, jemand fragt deren erwachsene Enkel nach ihren Großeltern.
„Jaja, die leben noch. Sind jetzt jenseits der achtzig. Sie verbringen die meiste Zeit auf ihrem Boot im Mittelmeer.“
„Ach“, hakt der Frager nach, „und zu Deiner Feier konnten sie nicht kommen?“
„Leider nein. Sie haben im Sturm den Mast verloren, liegen seit über drei Monaten bei Salerno vor Anker und warten auf den neuen Mast aus Frankreich.“
Das Gesicht würde ich gerne sehen.

Paul zuckt mit den Schultern, als er bei uns abends an Bord sein Glas erhebt. „Segeln hält jung. Alt ist man nur, wenn man sich alt fühlt“, sagt er.

Entzaubert

Entzaubert

„Zuerst wirst du zu den Sirenen gelangen, die alle Menschen bezaubern, wer auch zu ihnen hingelangt. Wer sich in seinem Unverstande ihnen nähert und den Laut der Sirenen hört, dem treten nicht Frau und unmündige Kinder entgegen, wenn er nach Hause kehrt, und freuen sich seiner, sondern die Sirenen bezaubern ihn mit ihrem hellen Gesang, auf einer Wiese sitzend, und um sie her ist von Knochen ein großer Haufen, von Männern, die verfaulen, und es schrumpfen rings an ihnen die Häute.“        Odyssee XII 52

So mahnte Kirke den Helden und wir können nur erahnen, wo deren Insel liegt. Sie sitzen auf einem Fels im Tyrrhenischen Meer, so viel ist sicher, weil sie ja irgendwo sitzen müssen und nicht frei herumschweben können in ihren Körpern ohne Flügel. Wie auch die Götter bei den alten Griechen nicht im luftleeren Gedankenraum herumschweben können, sondern Körper brauchen, Charaktereigenschaften, Fähigkeiten, Gefühle. 
Wo wir auch hinfahren auf unserem Weg nach Süden, im Tyrrenhischen Meer beansprucht nahezu jede Insel, die der Sirenen zu sein: Ventotene, Procida, die Galli Inseln, von denen herüber sie mit honigsüßer Stimme rufen. Über die in den Fels eingelassene Treppe steigen sie zu den Seeleuten hinab und nehmen sie für immer gefangen. Doch keine Frau hat je ihr Singen vernommen.
Nach Tagen auf See beginne ich zu verstehen. Land, speziell Inseln, sind verführerisch, wenn man lange keinen festen Boden mehr unter den Füßen hatte, wenn die Mahlzeiten dürftig, wenn die geliebte Frau fern.
Penelope ist an Bord. Wir passieren die pontinischen Inseln, die Inseln im Golf von Neapel, die Galli- Inseln. Ich greife zum Fernglas, sehe die Treppe, suche die Insel ab   – vergeblich. Sie zeigen sich nicht, lassen nichts von sich hören. Ich kann es mir nicht anders erklären, sie müssen meine Frau am Steuerstand gesehen haben.

Agropoli

Agropoli

Mit dem Verlassen der Amalfiküste nach Süden ändert sich die Welt um uns herum unterwartet und deutlich. Das Meer beruhigt sich wie von Zauberhand und erst jetzt wird mir bewusst, dass sein Aufgewühltes rund um den Golf von Neapel nicht dem Wetter geschuldet war, sondern vor allem den Hundertschaften an Booten und Schiffen, die es tagein tagaus durchpflügen, darüberrasen, ja es geradezu drangsalieren. Die einen für den vermeintlichen ‚Diesen einen Moment‘, die anderen für das Geld, das mit dieser Illusion abzuschöpfen ist. 
Beim Einlaufen in Agropoli grüßt von der Hafenmauer eine lebensgroße Madonna und als wir direkt unterhalb der felsigen Anhöhe der Altstadt ankern, fühlen wir uns behütet.  Die Kirchenglocken schlagen Fünf tiefe Schläge, gefolgt von zwei hohen. Es ist halb sechs. Hier bleiben wir drei Nächte, zwischen zwei holländischen Booten, deren Bewohner schon am nächsten Abend unsere Gäste sein werden. Man lernt sich schnell kennen, von Boot zu Boot. Gerben und Jolanda wollen noch nach Griechenland, bevor sie sich nächstes Jahr über den Atlantik trauen, Paul und Mary besegeln seit vierzig Jahren das Mittelmeer und sind über achtig. Sie haben im Sturm ihren Mast verloren und warten hier in Agropoli auf Ersatz. Aber das ist eine andere Geschichte

Capri

Capri

Capri ist ein Muss. Wir waren vor zehn Jahren schon einmal hier. Das Städtchen, das sich auf dem Sattel der Insel wie gemalt einfügt, ist einen Besuch wert. Seit über hundertzwanzig Jahren kommen Künstler, Schriftsteller, Freigeister, und sie bleiben länger. Ein Krupp-Erbe erbaute sich hier seinen Traum einer Villa hoch über dem Meer. Hier konnte er unbehellicht leben. Kaiser Tiberius regierte von hier aus zwölf Jahre lang das römische Imperium. Rilke kam 1907, nachdem er sich mit Rodin überworfen hatte. Hier fand er Inspiration für seinen Band Der neuen Gedichte anderer Teil. Das Lied vom Meer ist unterzeichnet mit Capri. Piccola Marina

Und dann, das Liebes – Lied. Ich muss es einfach in Gänze niederschreiben:

Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiter schwingt, wenn deine Tiefen schwingen.

Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süßes Lied.

Die Häuser im Zentrum Capris sind stilvoll, gepflegt und stehen im krassen Kontrast zu allem, was wir sahen, seit wir die Toskana hinter uns gelassen haben. Allgegenwärtiges Symbol ist die prächtig-pralle Zitrone. Eine Insel aus Reichtum und Überfluss. Die Menschen bewegen sich darauf wie als Teil eines exotisch kunstvollen Ganzen. Es wirkt wie ein Versuch, die Grenzen zwischen Kunst und Leben zu überwinden, wenn sie am Abend in den Gässchen des verwunschenen Ortes und auf dem zentralen Platz vor der Kirche ihr  Schaulaufen abhalten, wenn auffallend attraktive und gepflegte Frauen an den Schaufenstern der Boutiquen vorbeischlendern, als würden sie sich dafür interessieren, während es ihnen doch vor allem darum geht, gesehen und bewundert zu werden. Dazu ein Mann an ihrer Seite, oft aus gutem Hause, aber auffallend öfter einer, der aus seiner Rolle fällt. In Shirt und Shirts mit Schlappen, ein schlurfender Gang, ein ungepflegter Bart. Kaum vorstellbar, dass hier gegenseitige Zuneigung im Spiel ist. Aber wer spielt hier welche Rolle?

#capri. Das ist für viele der Blick von der Terrasse zwischen von Bougainvilla umschlungenen Säulen hindurch, hinab auf die Bucht, das Felsentor Faraglioni, vor dem man sich unbedingt ablichten lassen möchte, am besten vom Boot aus. Morgens ab neun fahren die ersten umgebauten Kutter mit den schönen Touristinnen an Bord hinaus, für dieses eine Bild. Sie drapieren sich auf der Kunstledermatte am Vorschiff wie Diven, durch und durch gestylt, mit Handtäschchen. Die Frauen lassen sich das mehrere Hundert Euro kosten, um bei den Likes ganz vorne mit dabei zu sein. So kann man auch die schönsten Plätze der Welt zur Kulisse eines leeren Ichs abwerten.

Panopticon

Panopticon

Wenn man an San Stefano vorbeifährt, fällt einem der trutzige Bau auf, der auf dem Hügel thront wie eine Festung. Das ist er auch, allerdings nicht um Feinde von außen abzuwehren, sondern sondern um den Gegner von innen zu bekämpfen.
Durch eine geeignete architektonische Struktur die Herrschaft eines Geistes über einen anderen erlangen. Prinzip eines idealen Gefängnisses das die Einzelzellen im Halbkreis anordnet, damit alle Gefangenen von einem einzigen Wächter in einem zentralen Gebäude beaufsichtigt werden können, ohne zu wissen, ob sie gerade beobachtet wurden oder nicht. Die Bourbonen haben das beim englischen Philosophen Jeremy Bentham in Auftrag gegeben, der auf diese Weise ein Prinzip der Abschreckung vor dem Bösen errichtete, das sich aus dem Bewusstsein ständiger Kontrolle ergibt. Die Inschrift über dem Eingang lautet:
„Donec sancta Themis scelerum tot monstra catenis victa tenet, stat res, stat tibi tuta domus anbringen.“
Solange das Heilige Gesetz so viele böse Menschen in Ketten hält, bleiben Staat und Eigentum sicher.
Der italienische Literat und Politiker Settembrini saß hier neun Jahre lang ein und schreibt dazu: „Diese Worte werden von den meisten, die eintreten, weder gelesen noch verstanden, doch sie berühren das Herz des politischen Gefangenen und warnen ihn, dass er einen Ort ewiger Qual betritt, unter verlorenen Menschen, denen er gleichgestellt ist. Man muss großen Glauben an Gott und Tugend haben, um der Verzweiflung zu entgehen.“
Panopticon nannte Bentham das, und wenn ich die ganze Geschichte des Aufenthalts von Settembrini hier lese, wird mir schlecht bei dem Gedanken, wie mit Menschen noch vor wenigen Jahrhunderten umgegangen wurde – Nein, auch heute noch umgegangen wird. In Assads Folterkellern war es kein Stück besser. 2025 in Sibirien, kein Stück besser.
Settembrini endet seine Geschichte mit: Hier leben wir den Winden und dem Meer ausgeliefert, getrennt vom Universum und erleiden all die Schmerzen, die das Universum bereithält.
Ein verstörender Ort diese zwei Inseln unweit der Ferieninsel Ischia, auf denen es zu aller Zeit immer um Verbannung und Tod ging. Und doch faszinierend.

Santa Candida di Ventotene

Santa Candida di Ventotene

…, Jungfrau und Märtyrerin, ist Schutzpatronin von Ventotene. Ihre jährliche Verehrung wird in der Woche vor dem 20. Sep gefeiert.
Die kleine Insel mit pastellfarbenen Häuschen, hübsch anzusehen, zählt zu den Pontinischen. Ihr alter Hafen ruht sichtbar auf römischen Grundmauern. Unser Katamaran ist zu breit für die Hafeneinfahrt. Wir ankern in der Nähe, um mit unserem neuen Paddelboot einen kurzen Weg an Land zu haben.
Römische Kaiser haben hierher ihre Frauen und Schwestern verbannt, wenn sie ihrer überdrüssig waren, oder sie vor einem Mord zurückscheuten. Überhaupt scheint hier ein guter Ort für die Verbannung zu sein. In unmittelbarer Nähe liegt die Insel San Stefano, auf der die Bourbonen einen Gefängniskomplex für die Feinde der Monarchie errichten ließen.
Auf Ventotene leben heute vierhundert Menschen. Der Ort ist vom Aussterben bedroht und wird von offizieller Seite als Wohnsitz beworben. Wenn ich mal richtig meine Ruhe haben will, ziehe ich hierher, denke ich. Hier findet mich niemand. Ende September ist das Dorf jedoch voller Leben. Nach der heiligen Messe versammeln sich die Einwohner und Gäste zu Ehren der Schutzpatronin vor der Kirche, musizieren und lassen feierlich einen bunten Ballon vom Kirchplatz aufsteigen. Wir geraten durch Zufall mitten hinein, stehen mittendrin, als das Tuch sich bläht und aufrichtet. Der verzierte Ballon steigt drehend in den Nachthimmel, man hat unwillkürlich das Bedürfnis, sich etwas wünschen. Allzeit gute Fahrt, günstige Winde, die Unzertrennlichkeit der beiden Traumjäger. So was in der Art.

Wir liegen hier für eine Nacht. Schon am nächsten Morgen soll es weiter gehen, bei frühem Ostwind. Doch wir erwachen vor dem Wecker. Es ist noc h dunkel. Die See spült unangenehm aufgewühlt Welle um Welle gegen das Eiland und drückt uns fast auf den Fels vor der Hafeneinfahrt. Wir starten die Motoren, holen den Anker ein und fahren hinaus auf das unruhige Meer. Äolus vertreibt uns regelrecht, und spielt uns obendrein einen Streich. Bei schönstem Sonnenaufgang schickt er Winde von Südost, mit fünf bis sechs Stärken, die Dreamchaser stampft von Beginn dagegen an. Immer wieder wird das Vorschiff von einer höheren Welle überspült. Nicht daran zu denken, bei diesen Bedingungen die zwei Stufen in den Mast zu steigen, die nötig sind, um das Großsegel anzuschlagen. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als unter Motor zu fahren. Sechs Stunden lang geht das so. Der sich Gott der Winde schimpft, kommt mir zunehmend wie ein kleiner Windteufel vor. Was bildet der sich ein?

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