
Inchino
Giglio ist eine der kleineren Inseln der Toskana. Sie liegt querab von Orbetello und bietet Seglern Schutz bei stsrkem Westwind.
Der kleine Hafen auf der Ostseite der grünen Insel ist im Sommer gut besucht von Tagesgästen. Im Winter ist hier nicht los.
Wir kommen von Elba und wollen in die pittoreske Nachbarbucht neben dem Hafen ansteuern. Drei Felsen, vor denen man sich in Acht nehmen sollte, sind auf der Seekarte verzeichnet. Drei?, fragt Carola. Ich sehe nur zwei, und tatsächlich ist der dritte und kleinste fast nicht zu erkennen, denn er ragt kaum einen Meter aus dem Wasser.
Wir fahren einen großen Bogen, bevor wir ankern undmit dem Dinghy an Land gehen. Am Hafen fällt mir ein alter Mann mit einem Spazierstock auf, der auf einem Steinblock sitzt und auf das Meer hinaus starrt, genauer noch, auf eine Stelle vor der Hafeneinfahrt, so kommt mir das vor. Ich schätze ihn auf über achtzig und sein grober Holzstock mit rundgebogenem Griff, auf den er sich mit beiden Händen stützt, wirkt deutsch. Wir gehen essen, und als wir danach zum Hafen zurückkommen, sitzt der Mann immer noch auf dem Block. Im Vorbeigehen sage ich Guten Abend. Der Mann nickt. Ich bleibe stehen und frage, ob ich mich kurz setzen darf. Er sagt Ja bitte, und ich folge seiner Einladung, während Carola sich langsam entfernt, als wäre sie allein unterwegs.
Wir sitzen eine Weile nebeneinander, ohne ein Wort zu wechseln und von Minute zu Minute fällt es schwerer, den Einstieg in ein Gespräch zu finden.
Schön hier, nicht wahr?, sagt der Mann. Er spricht leise und langsam. Ich nicke.
Ich komme jedes Jahr einmal hierher, um meine Frau zu besuchen, sagt der Mann. Ein Besuch an ihrem nassen Grab.
Im Januar 2012 lief hier ein Kreuzfahrtschiff auf Grund. Der kleine Fels, wenn man rechts aus dem Hafen fährt.
Ich schmunzele wissend.
Der Stein riss ein siebzig Meter langes Loch in den Rumpf, das Schiff trieb manövrierunfähig in die Gegenrichtung und havarierte endgültig auf diesem Felsen vor der Hafeneinfahrt und legte sich auf die Seite. Der Mann zeigte mit zittriger Hand in die Richtung. Wir saßen im Speisesaal. Plötzlich ging das Licht aus und dann fing das Schiff an, seltsam ruckelige Bewegungen zu machen. Als es sich von einer seitlichen Bewegung nicht mehr aufrichtete, fasste ich die Hand meiner Frau. Wir gingen zu unserer Kabine, legten die Schwimmwesten an und eilten über schräge Treppenstufen zurück an Deck, wo bereits Tumult herrschte. Eine Stimme aus dem Mikrofon forderte uns auf, zurück in unsere Kabinen zu gehen und weitere Anweisungen abzuwarten. Ich sah mich um. Es herrschte Dunkelheit. In der Nähe waren bewaldete Hügel erkennbar, Lichter. Als ich mich wieder meiner Frau zuwandte, war sie verschwunden. Ich nahm an, sie sei den Anweisungen gefolgt, hastete zurück zu unserer Kabine, fand sie dort aber nicht vor. Die Schräglage des Schiffes erschwerte bereits die Bewegung an Bord, doch weil ich Amalia finden musste, ging ich wieder an Deck. Dort herrschte mittlerweile Chaos. Einige Passagiere versuchten, in Rettungsboote zu steigen, andere hielten sie davon ab. Nirgends ein Offizieller. Ich irrte umher und wusste bald nicht mehr, was tun. Hilferufe, Sprünge ins Wasser, plötzlich einsetzender Lärm von Rotoren über mir, Böen wie von einem kräftigen Wind, wie Krieg war das, es macht einen irgendwann verrückt. Können sie sich das vorstellen?, fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf.
Und irgendwann kommt ein Punkt, der ihnen sagt, dass ihr Leben am seidenen Faden hängt, auf des Messers Schneide steht, irgendwas in der Art. Ich redete mir ein, dass meine Frau wahrscheinlich längst in einem Rettungboot saß und in Sicherheit war, obwohl kein solches Boot zu sehen war. Das Wasser reichte inzwischen fast bis an die Reling heran. Ich stieg auf die Brüstung und sprang.
Der Mann atmet tief und schwer. Man sagt, ich hatte Glück. Vom Heck des Schiffes waren es keine fünfzig Meter an Land. Eine gute Seele muss mich ans Ufer gezogen haben. Der Sprung ins januarkalte Wasser aus doch nicht so geringer Höhe hat mir das Bewusstsein genommen. Ich erwachte auf einem Felsen liegend mit einer Decke über mir. Sie haben mich dann auf eine Fähre gesteckt und in ein Krankenhaus aufs Festland gebracht.
Es war Geschenk zu unser goldenen Hochzeit gewesen, eine Kreuzfahrt von Italien durchs Mittelmeer, gleich zu Beginn des neuen Jahres. Meine Frau stammt von hier. Es sollte ein Höhepunkt unseres gemeinsamen Lebens werden.
Ich sehe Trauer, ich sehe Liebe in seinem Gesicht.
Die Italiener haben sogar einen Namen für das, was hier geschehen ist, fährt er fort. Inchino, Verneigung, nennen sie das, wenn ein Schiff ganz nah einen Hafen passiert und dabei das mächtige Horn ertönen lässt.Man erzählt sich, dass ein Bürgermeister von Giglio sich einst persönlich bei einem Kapitän bedankt hat, der solches praktizierte. Er lächelt und es wirkt etwas zynisch. Seither komme ich einmal im Jahr hier her und verneige mich vor meiner Frau.
Als wir am nächsten Morgen den Anker lichten, fahren wir einen großen Bogen, vorbei an dem Fels. Auf Höhe der Hafeneinfahrt verneige ich mich.